Geschichte eines Quartiers: Vom Zentrum internationaler Kernkraftkompetenz zum Luxuswohnquartier - KWU Offenbach
Kaiserlei, Offenbach am Main : Das Stadtviertel Kaiserlei ist eigentlich in super attraktiver Lage: Am Ortseingang, zwischen Stadtwald und Fluss, angebunden an das S-Bahnnetz und an die A 661, flughafennah, günstigere Grundstückspreise als im benachbarten Frankfurt, kurzum: eigentlich das perfekte Bürogebiet – und doch war es lange Zeit das schlecht entwickeltste Viertel der Stadt und viel mehr für seinen Leerstand bekannt. Zwischen Shell-Tankstelle, einem McDonald’s, Hyundai-Autohaus und einem modernen Büro-Ensemble der Helaba fanden sich Hausruinen mit ausgebrannten Dachstühlen, Bürohochhäuser, in denen nie Licht brannte, leere Verkaufsflächen, heruntergekommen Lagerhallen, Hinterhöfen in denen Schrottautos abgestellt wurde und vieles mehr. Auf brachliegendem Bauland wucherten Pionierwälder, in denen Obdachlose in Zeltlagern hausten. Einzelne leerstehende Häuser dienten ebenfalls als Wohnstätte.
Das Kaiserlei-Viertel hatte lange kein gutes Image. Während es von Seiten der Stadtverwaltung jahrelang an umsetzbaren Aufwertungsstrategien mangelte, hatten Kabeldiebe hinter den unscheinbaren Fassaden schon längst Hand angelegt und die Gebäude ausgeweidet. Der wirtschaftliche Strukturwandel und der Abzug großer Arbeitgeber aus der Stadt Offenbach hatte am Kaiserlei deutliche Spuren hinterlassen.
Heute, 10 Jahre später, ist der Kaiserlei fast nicht wiederzuerkennen. Rege Bauaktivität prägt das Straßenbild. Viele neue Gebäude sind schon fertiggestellt. Dort, wo die Kräne und Bauzäune noch stehen, werben wohlklingende Projektnamen für die neuentstehenden Wohn- und Gewerberäume.
Neben der Dauerbaustelle Kaiserleikreisel ist das größte Projekt der Region, der Umbau der ehemaligen Siemens-Hochhäuser, welche nach 20 Jahren Leerstand nun zum Vitopia Campus umgebaut werden. Die beiden Hochhäuser, die sich vorher bereits in der Nutzung von Siemens befanden, sind die zweitgrößten der Stadt und ein markanter Blickfang am Ortseingang von Offenbach. Nun entstehen in ihnen hochklassige Hochhauswohnungen. Die letzten 40 Jahre Geschichte dieses Standorts, frühere Nutzung und zukünftige Auslegung, sind ungewöhnlich. Die folgende Fotoreportage gibt einen letzten lebhaften Einblick in die Geschichte des Standorts und dokumentiert seine aktuelle Umbruchsituation.
1970 - 2004: Firmensitz Siemens KWU und Framatom
Die Abkürzung „KWU“ steht für Kraftwerk Union. Zusammen mit Siemens Framatom war die KWU, beides Tochterfirmen des deutschen Siemens Konzerns, weltführend im Bereich Bau und Entwicklung neuer Atomkraftwerken. Die Entwicklung des European Pressurized Reactor (EPR), seinerzeit der fortschrittlichste und sicherste Druckwasserreaktor, geht auf sie zurück. Langezeit war Offenbach ein zentraler Standort der beiden Firmen. Vier weiteren Niederlassungen befanden sich in Mühlheim an der Ruhr, Erlangen, Berlin-Moabit und Karlstein am Main. Seit den 1975er Jahren wurden alle der in Deutschland gebauten AKWs von Siemens entwickelt. Verstärkt war der Konzern nur noch im Ausland tätig. Ein Blick in die Firmengeschichte deckt auf, wohin die Offenbacher Ingenieursarbeit exportiert wurde: Ihre AKWs stehen in den Niederlanden, in Brasilien, in Paraguay, im Iran und an vielen weiteren Standorten (1).
Als Siemens ihre Kernkraftsparte auflöste, weil die Zukunft von Atomenergie durch den Verlust ihres politischen Rückhalts in Deutschland verloren schien, und die KWU 2004 ihre Niederlassung in den Bürotürmen zwischen Berliner- und Strahlenbergerstraße auflöste, blieben die 20- und 24-stöckigen Betonklötze leer zurück.
Die letzten Anteile an der Kernkraftsparte verkaufte Siemens an den französischen Konzern Areva NP und zog sich selbst aus den „heißen Geschäften“ der Branche zurück. Areva NP unterhielt weiterhin 560 Angestellte in einem kleineren Bürogebäude am Kaiserlei (2). 2016 wurde auch dieses Büro aufgelöst, womit die Atomenergie den Standort Offenbach-Kaiserlei schließlich vollständig verließ.
© Bennett Encke 2021: Auszug aus der Fotoserie „Ghost Towers“, aufgenommen 2013-2017 in den leerstehenden KWU-Hochhäusern am Kaiserlei.
2004-2017: Leerstand, Verfall und Vandalismus
In lokalen Zeitungen als „Schandfleck“ (3) beschimpft, machten sich die ehemaligen KWU-Hochhäuser bei den lokalen Jugendlichen als „Ghost Towers“ einen Namen. Schwer zu übersehen, wurden sie inmitten des heruntergekommenen Gewerbegebiets zu einem Anziehungspunkt für neugierige Jugendliche, Graffitisprayer, Lost Place-Fotografen und Diebe. Im Inneren der verbarrikadierten Gebäude war es immer unheimlich still. Teilweise war die Stromversorgung noch intakt. Die Beleuchtung der offen stehenden Aufzugskabinen warf helle Lichtkegel auf die dunklen Flure. Die außen angebrachten Anzeigen, die signalisierten, in welchem Stockwerk sich die Kabine gerade befand, blinkten rot bei Tag und Nacht. Untereinander erzählten man sich, dass die Aufzüge manchmal von allein losfahren würden, nur um dann auf einer neuen Etage stehen zu bleiben. Diese leuchtenden Aufzugskabinen waren ikonisch für die Ghost Towers, genauso wie die Spuren Hunderter geleerter Feuerlöscher, deren verteilter Inhalt als weißer Staub überall Gänge und Treppenstufen des Gebäudes bedeckte – darin die Fußabdrücke seiner heimlichen Besucher archiviert: Markante Stiefelabdrücke von Kabeldieben vermischten sich mit den Sneakerspuren von Jugendlichen.
Kabeldiebe
Bis zuletzt waren dort die Kabeldiebe aktiv. Die „Kupfersucher“ drangen immer höher ins Gebäude vor, um auch noch die letzten verbleibenden Leitungen zu demontieren, die anschließend durch das gesamte Gebäude geschliffen wurden. Im dritten Stock war die Sammelstelle. Dort wurden die Kupferadern herausgeschnitten. Die leeren Ummantelungen stapelten sich in Bergen. Das Diebesgut transportierte man dann auf das Vordach und von hier aus erfolgte der Abwurf über zwei Stockwerke nach unten, auf die benachbarte Brachfläche. Dort stand schon der Sprinter mit osteuropäischem Nummernschild abfahrbereit, der das metallene Diebesgut zu einem Schrottplatz des Vertrauens transportierte.
2017-2024: Ein langer Weg bis zur Transformation zum Wohn- und Geschäftspark
Mittlerweile sind die ex-KWU-Hochhäuser eine Großbaustelle. Ein nicht unumstrittenes Hochglanzviertel am Ortseingang von Offenbach soll entstehen. Die städtische Wirtschaftsförderung vermarktet es mittlerweile auf Immobilienmessen europaweit (4). Namenhafte Firmen konnten bereits für den neuen Standort gewonnen werden. Darunter das Rechenzentrum MainCubes, Helaba, Hyundai, AXA, Creditplus Bank AG, Danfoss, Lomosoft und Honeywell (5) (6).
Doch bevor es soweit kommen wird, noch ein Gespräch mit einem Nachbarn. Direkt neben den KWU-Hochhäusern, noch auf demselben Grundstück, steht das 5-stöckige Best Western Macrander Hotel. Dennis (Mitarbeiter des Hotels) berichtet: „Seitdem die für die Baustelle einen hohen Zaun drum rum gestellt haben, sehen wir ja nicht mehr, was da passiert. Unsere Fenster sind ziemlich gut isoliert, da hörst du auch nix, wenn du drinnen bist. Aber wenn meine Kolleginnen vom Empfang zum Rauchen raus gehen, hören die dann nachts manchmal, wie die Alarmanlage über die ganze Baustelle schallt: „Achtung. Entfernen Sie sich sofort. Dieses Grundstück wird polizeilich überwacht.“ Dazu gehen noch die Scheinwerfer an. Im Winter ist es immer recht still, aber im Sommer geht das quasi die ganze Zeit. Auch wenn die jetzt vor einem Jahr einen Baustopp eingelegt haben, hören wir es immer noch bohren und hämmern, auch spät nachts. Das war vorher, als das Ding leer stand, nicht anders.“
Investorenauswahlverfahren, Eigentümerwechsel, Entwicklungsstrategie
2010, ohne dass je neue Mieter in die riesigen Bürotürme nachgezogen sind, erhielt die Allianz Immobilien GmbH, welche seit 2005 das Gebäude verwaltet, für die beiden unansehnlichen 70er-Jahre-Hochhäuser eine Abbruchgenehmigung (7). Doch Gebäude und Gelände blieben viele weitere Jahre ohne Veränderung. Für das gesamte Gebiet existierte auch keine stimmige regionale Entwicklungsstrategie. Die Investitionshemmungen waren groß. 2013 erwarb die CG Gruppe das 3,5 ha große Areal sowie das Grundstück des Best Western Macrander Hotels nebenan und verband damit große Pläne (zwischenzeitlicher Projektname: „NewFrankfurt Towers„) (8) (9). Seitdem wechselte das Grundstück mehrmals die Hand. Zwischenzeitlich wurde die Genehmigung zum Abbruch städtischerseits wieder zurückgezogen, da diese für die S-Bahnlinie, die darunter verläuft, als zu riskant eingeschätzt wird. Schließlich wurde 2017 mit der Kernsanierung der Hochhäuser begonnen, um daraus eine Apartmentanlage zu machen. Projektentwickler ist Consus Real Estate (zugehörig der Adler Group). Nach einem einjährigen Baustopp (von Mitte 2020 bis voraussichtlich Mitte 2021) wurde die Fertigstellung von 2021 auf 2024 verschoben.
Der ambitionierte Projektnamen NewFrankfurt Towers wird zwar nicht mehr verwendet, doch richtet sich die Vermarktungsstrategie des neuen Stadtquartiers nach wie vor an den angespannten Wohnungsmarkt der benachbarten Bankenmetropole. Neben 837 Mietwohneinheiten (zwischen 40 und 140 m2) gehören Büroflächen, Schwimmbad, Fitnesscenter, Gastronomie, Einzelhandel, Parkhaus und Grünflächen, die auf dem Vitopia Campus, so der neue Name, zum Gesamtkonzept des Wohn- und Geschäftsparks (10).
Vier von fünf Bauteilen wurden von dem Architekturbüro Eike Becker_Architekten entworfen, der fünfte Bauteil von KSP Jürgen Engel Architekten (11).
Offenbach 2030
Die Stadt Offenbach hat den 2016 präsentierten Masterplan Offenbach 2030 entwickelt, in dem u.a. das Kaiserlei-Viertel (Schlüsselprojekt 3: Neupositionierung Kaiserlei) zum neuen Unternehmens- und Dienstleistungsstandort der Region werden soll. Dafür sind weitere 7,2 ha bisher weitgehend ungenutzte Gewerbefläche zu revitalisieren und neu zu gestalten (12) (13). Mit der Fertigstellung des Neubaugebiets Hafen Offenbach, der Neugestaltung der Maininsel Nordkap Park (früher King Kamehameha Beach Club), der Fertigstellung des Goethe-Quartiers und bspw. der Neueröffnung des Golden Tulip Hotels haben sich zwischen Main, Goethe-Ring und linksseitig des rückgebauten Kaiserleikreisels bereits zentrale Projekte für die Neuvermarktung Offenbachs materialisiert.
Campus Kaiserlei in der Zukunft?
Mit der Neuentwicklung des Kaiserlei-Areals wird eine Brücke geschlagen, zwischen dem attraktiven Image der Stadt Frankfurt und der Absorptionsfähigkeit des Baulandes in Offenbach. Für Offenbach bedeutet es mehr Gewerbesteuereinnahmen und eine Grundsteinlegung für weitere zukünftige Investments. Inwiefern der Wohn- und Geschäftspark tatsächlich ein lebenswertes Umfeld bieten wird, wird sich in den nächsten Jahren zeigen. Diversität und Exklusivität in Balance zu bringen, ist eine Herausforderung, die jedes gehobene Neubauviertel, das lebendig sein will, meistern muss. Der industrielle Flair der Umgebung und die Nähe zu den Nachtclubs Robert Johnson und MTW könnten dafür gute Voraussetzungen sein. Von diesen alternativen kulturellen Angeboten würde das Viertel profitieren, sofern es baulich integriert wird und ggf. eigene Angebotserweiterungen schafft. Somit könnte eine Gegenvision zur anonymen, akzentlosen, dem internationalen Publikum verpflichteten Hochhauslandschaft – einem Schicksal, dem schon viele solcher Neubauviertel verfallen sind – gesetzt werden.
Bennett Encke, 23.06.21
© Bennett Encke 2021 | www.bennettcreations.de
Quellenverzeichnis
1 Udo Leuschner, Februar 2009: Aufstieg und Niedergang der Nukleartechnischen Kompetenzen von Siemens [https://www.udo-leuschner.de/energie-chronik/090202d.htm] (Zugriff 31.05.21).
2 Offenbach Post online, 01.07.2016, Marc Kuhn: Standort nach Erlangen und Karlstein verlagert Areva ist weggezogen. [https://www.op-online.de/offenbach/areva-weggezogen-6533861.html] (Zugriff 31.05.21).
3 Frankfurter Rundschau online, 10.03.2017, Claudia Isabel Rittel: Ein Schandfleck verschwindet [https://www.fr.de/rhein-main/offenbach/schandfleck-verschwindet-11671102.html] (Zugriff 31.05.21).
4 Offenbach am Main Homepage, 10.10.20: [https://www.offenbach.de/wirtschaft/aktuell/Artikel_/nachbericht-expo-real-2019.php] (Zugriff 02.06.21).
5 Offenbach am Main Homepage, 07.05.21: [https://www.offenbach.de/leben-in-of/planen-bauen-wohnen/aktuelle_Projekte_stadtentwicklung/kaiserlei-umbau/Umbau_Kaiserlei/kaiserlei-nord-ost07.05.2021.php] (Zugriff: 28.05.21).
6 Offenbach am Main: Masterplan Zwischenbilanz [https://www.offenbach.de/medien/bindata/of/bauen-wohnen/masterplan_/Masterplan-Zwischenbilanz.pdf] (Zugriff 31.05.21).
7 Frankfurter Neue Presse online, 24.10.2010, Norman Körtge: Kaum einer will in die Geister-Hochhäuser [https://www.fnp.de/frankfurt/extratipp/niemand-will-geister-hochhaeuser-971735.html] (Zugriff 30.05.21).
8 Offenbach Post online, 30.06.2015, Veronika Schade: Geisterzustand am Kaiserlei bald zu Ende [https://www.op-online.de/offenbach/geisterzustand-bald-ende-5184117.html] (Zugriff 30.05.21).
9 Eike Becker_Architekten Homepage: VITOPIA: Grundsteinlegung [https://www.eikebeckerarchitekten.com/news/vitopia-grundsteinlegung.html] (Zugriff 30.05.21).
10 Consensus Real Estate Homepage: Frankfurt Campus Kaiserlei Offenbach [https://www.consus.ag/frankfurt-kampuskaiserlei] (Zugriff 31.05.21).
11 Consensus Real Estate Homepage: Frankfurt Campus Kaiserlei Offenbach [https://www.consus.ag/frankfurt-kampuskaiserlei] (Zugriff 31.05.21).
12 Offenbach am Main Homepage, 07.05.21: Neue Bürogebäude entstehen im Kaiserleiviertel [https://www.offenbach.de/leben-in-of/planen-bauen-wohnen/aktuelle_Projekte_stadtentwicklung/kaiserlei-umbau/Umbau_Kaiserlei/kaiserlei-nord-ost07.05.2021.php] (Zugriff: 28.05.21).
13 Offenbach am Main: Masterplan Offenbach am Main: 2030 [https://www.offenbach.de/medien/bindata/of/bauen-wohnen/masterplan_/160303_Broschuere_Masterplan_Offenbach.pdf] (Zugriff: 28.05.21).